Ein blaues Nichts (2010)

Nach zwei Jahren teils ausgiebiger Nutzung habe ich nun, pünktlich zur Sonnenwende mein Facebook-Profil gelöscht. Bzw. deaktiviert. Ohne Vorankündigung oder Abschiedsschreiben. Über die konkreten Begleitgedanken ist nicht viel zu verlieren, das wurde in Blog-Form schon mehr als hinreichend dargestellt. Es geht – hier zumindest – auch nur am Rande um Aspekte wie Facebook-Suchtverhalten, Privatsphäre oder deren Verlust, oder das Geschäftsgebahren eines jungen Universitätsabsolventen aus Harvard.

Interessanter ist die vollständige, die absolute Betrachtung. Schließlich ist die 0 ein elementarer Bestandteil des dualistischen 1/0-Prinzips der digitalen Sphäre. Facebook zählt zweifelsfrei zu dem Bereich der digitalen Medien, also kann man es auch auf 0 stellen, aus. Ganz aus.
Für mich ist jedes Objekt weitaus besser zu verstehen, wenn man es in seiner Ganzheit betrachtet, von außen, oder eben nicht existent. Facebook war jetzt eine Weile da, ich war auch drin, tief genug, jetzt ist es weg. Es mag ein gut angelegtes, sauber durchdachtes, sogar bestechendes Netzwerk sein – einfach, bei gleichzeitiger Multifunktionalität. Ohne Zweifel ist es die modernste Ausprägung des Internets und sehr wahrscheinlich die bis heute größte globale Erscheinungsform unter einem Markennamen.

Dieses neue Netzwerk nutzt am bislang geschicktesten alle digitalen Interfaces und bringt sich durch deren Mobilität in die Lage, einen beträchtlichen Teil der Kapazitäten unseres Nervensystems zu belegen. Und zwar räumlich (überall), zeitlich (immer) und sogar gedanklich. Trotzdem bildet Facebook nur einen Teil des Netzes ab. Es belegt bestimmte, populär-triviale Verbindungen und vernachlässigt im Gegenzug eine ganze Schar anderer Verbindungsmöglichkeiten. Facebook ist allerdings nicht alt, und es kann ebenso schnell wieder fortgefegt werden, wie es daherkam. Die Prinzipen dafür sind identisch. Und es ist ja nur modern talking. Es ist nur ein Wort, ein Thema, ein Projekt, ein Dingsda, ein Blau, ein Wind, ein Wort, ein Nichts.

Allerdings eignet es sich an dieser Stelle als Brücke in eine andere, kompliziertere und nur schemenhaft erahnte Gedankenwelt. Eine Welt, an die ich mich bis dato nicht so recht heranwage. Für mich ist der Erfolg von Facebook unter anderem darauf zurückzuführen, dass es erstmals das Bewusstsein dafür geschärft hat, dass das vermeintlich rein elektronische Computernetzwerk im Grunde genommen ein soziales Netzwerk ist. The social network.
Facebook projiziert soziale Eigenschaften und Mechanismen in das elektronisch verschaltete Internet, bzw. nutzt es einfach die bestehende Infrastruktur und baut darauf auf. In seiner Banalität bildet Facebook überwiegend sehr einfache Elemente menschlicher Beziehungen ab. Es reflektiert größtenteils alltägliche Lebensaspekte wie etwa das Wetter, Lieblingssportmannschaften, Musik und Partys sowie Belanglosigkeiten aus dem Leben von Durchschnittsbürgern.
Neben der Möglichkeit, sich ein geringfügig modifiziertes Alter Ego zuzulegen und darauf seine eigenen Verbesserungswünsche zu projizieren, ist insbesondere diese thematische Anspruchslosigkeit einer der Hauptgründe für den überwältigenden Erfolg auf allen Kontinenten. Genau dadurch vermittelt Facebook nämlich eine so noch nicht erfahrene Vermenschlichung des sonst als eher kühl-anonym empfundenen Computernetzwerks.

Die vollständige, absolute Betrachtung hilft uns also dabei, auch das Internet in seiner Gesamtheit als sozial-elektronisches Netzwerk zu verstehen. Von Beginn an war auch dieses Computernetz nur dazu bestimmt, menschliche Köpfe miteinander zu verbinden. Marshall McLuhan, der Medienguru der 1960er, bezeichnet diese Elektrifizierung der Kommunikation als Verlängerung oder Ausdehnung des menschlichen Nervensystems.
Das ist nun um die 50 Jahre her, dabei lesen sich McLuhans Ausführungen über Radio, TV und Telegraphenwesen gerade so, als ob sie heute und zum Thema Facebook verfasst wären. Entscheidend in McLuhans visionärer Analyse ist dabei wohl das übergreifende Medienverständnis, das er entwickelt. Seine Überlegungen umfassen gleichermaßen die gesamte menschliche Zivilisation und den einzelnen Organismus. Die elektronische Sofortvernetzung, die wir längst alltäglich in Form von Facebook, Internet oder Instant Messaging bedienen, ist nicht mehr als eine Brücke in der Verlängerung unserer Nervensysteme, hin zur globalen und totalen Fusion.
McLuhan war der Prophet dieser Bewegung, ungezählte Studenten der Medienwissenschaften haben seine Theorien verinnerlicht und konstruieren daraus unsere Realität. Ich selbst bin weder so visionär, noch ist mir an einer (weiteren) wissenschaftlichen Abhandlung der Medientheorie gelegen. Ich stelle lediglich fest, dass die Elektrifizierung unseres Austauschs weitestgehend abgeschlossen ist. Das Internet hat unser Denken verändert, wie nun überall zu lesen ist.

Seit einiger Zeit bewegen wir uns nun schon in einer Welt diffusen Lichts. Die Grenzen zwischen dem allgegenwärtigen sozial-elektronischen Netzwerk und dem verlängerten Nervensystem sind oft nicht mehr präzise festzustellen. Die Welle schwappt zurück, bzw. ungebremst hin- und her. Die Schleusen sind geflutet, wir erleben eine durchgängige Osmose nervöser Reizung. Ganz gleich, ob man diese Welt nun Cyberspace, kollektives Bewusstsein, Schwarmintelligenz, Infosphäre, Äther oder sonstwie nennt. In jedem Fall handelt es sich um eine neue Halbwelt, in der auch neue Handlungsempfehlungen für das verunsicherte Individuum abzuleiten sind. Die Standortbestimmung oder die Selbstdefinition dieses verwischten Individuums erscheint jedoch ungleich schwieriger. Wie soll eine Definintion ohne Abgrenzung oder Widersprüche noch gelingen, wenn die Infosphäre bedingt, dass alle Verbindungen immer erlaubt werden (müssen)?

Darum genau soll es aber hier gehen. Worum es schon so vielen anderen identitätssüchtigen Schriftstellern ging. Um eine sinnvolle Abgrenzung des Selbst ohne Überhöhung des Ego.
Vielleicht ist aber auch die so manisch betriebene Suche nach Individualität nicht mehr als der direkte Ausfluss des kollektiven (digitalen) Bewusstseins. Interessanterweise wird nämlich gerade die von sozialen Netzwerken geprägte Gesellschaftszeit als überschäumend asozial & egoistisch empfunden und beschrieben. Gerne – oder ungerne – spricht man jetzt häufig vom Ende der Empathie.
Ein Widerspruch in der ansonsten als widerspruchsfrei geltenden elektronischen Moderne? Oder lediglich Phänomen einer Zeit im Wandel?

Auffällig ist die überhäufige Betonung der Wichtigkeit eines digitalen Profils, die Zuspitzung aller Werbeansprachen auf die Rolle des Users, des “You”, die Überhöhung der Selbsterfahrung, der Fetisch der frei entfalteten Persönlichkeit, usw. Zurück in die digital-soziale Halbwelt, respektive an ihre dahinsiechende Grenze, hinein in die seichten Überlappungszonen all dieser verlängerten Nervensysteme.
Dort wünscht die Geschichte unseres desorientierten Jack User zu spielen, gerne auf der Rückseite der globalen Echtzeit-Allmöglichkeit, auf dem Standstreifen des Information-Superhighway, in ihrer unbestimmten Gegenkultur.

Ist es das, worauf ich hier hinauswollte? So oder so, ich möchte mich lösen von der Beschränkung einer rein elektronischen Informationsannahme. Denn wenn es stimmt, dass wir uns nun schon seit längerem, vielleicht über die Dauer meines Lebens hinweg, in einer sich zunehmend auflösenden Welt ineinander fließender Nervensysteme bewegen, dann müsste sämtliche Information im Raum verfügbar sein. Zumindest aber erhältlich über jedes frei zugängliche Nervensystem.
Esoterischer Pudding, zugegeben, aber so fühlt sich das Information Age in der Haut des gut situierten Großstadtyogis eben an. Er schwebt – oder kriecht – durch eine sentimental verklärte Metasphäre, sehnsüchtig bestrebt, kunstgeil und bedeutungsschwanger, immer auf der Jagd nach dem besonderen Moment. Um diesen dann sofort in seinem sozialen Netzwerk zu teilen und an individuellem Profil zu gewinnen. Und da wir schon einmal beim esoterischen Pudding sind, können wir auch gleich noch eine zweite Portion anrühren. Elektronische Gedankenübertragung in ungeahnter Geschwindigkeit, die zu einem kaum hinterfragten Alltagsgeschehen verkommen ist.

Natürlich sind die Verbindungen unserer Zeit auch weiterhin auf Unterstützung durch technische Instrumente angewiesen. Durchgängig bestehende Verbindungen zwischen sehr vielen Menschen können jedoch problemlos hergestellt und aufrecht erhalten werden. Durch diese zeitliche wie räumliche Omnipräsenz ist somit zumindest die Grundlage geschaffen, einander sich ähnelnde Gedankenräume zu jeder Zeit und in fantastischer Geschwindigkeit zusammenzuschalten. Die uns zur Verfügung stehenden Netzwerke erreichen somit eine quasi-telepathische Befähigung.

Keine Frage, Telepathie ist ein verflucht heißes Eisen und tief rot im Bereich der Pseudowissenschaft. Telepathisch empfundene Erlebnisse können leicht als Folge selektiver Wahrnehmung auftreten – man sieht das, was man sehen möchte. Es sollte aber unbestritten sein, dass sich die Zahl der möglichen Verbindungspunkte im elektronisch sofortvernetzten Nervensystem der Welt alleine in meiner Generation potenziert hat. Der Aufbau solcher Standleitungen wird zunehmend als völlig natürlich empfunden.
Gedankenwelten bewegen sich mit wachsender Leichtigkeit durch diesen Raum. Die Zahl der Interaktionen nimmt zu, sukzessive erleben wir die Synchronisierung verwandter Gedankenströme. Bestenfalls kann es möglich werden, dass sich eine Gruppe von Menschen für einen gewissen Zeitraum in einem weitestgehend identischen Gedankenstrom bewegt. Bewegt man sich mit einem Menschen auch nur phasenweise in ähnlichen Gedankenräumen und ist überdies kontinuierlich und schnellstmöglich verbunden, so bestehen doch fraglos ungleich bessere Chancen zur Fusion von Gedankengut und einer assoziativen, gegenseitigen Inspiration.

Oder?

Anders ausgedrückt: entlang stabiler und technisch sauber konstruierter Wege in diesem System sollte es doch viel leichter vorstellbar sein, telepathische Funkenschläge zwischen gleichgesinnten Menschen herbeizuführen. Unter Umständen ist Telepathie auch weniger technisch-parapsychologische Utopie, als viel mehr geschmeidiges Einverständnis, ganz gleich ob dieses sich über weite Strecken oder in einem faktisch existenten Raum einstellt. McLuhan beschrieb den elektrisch verschalteten Raum gerne als “Global Village”. Unsereins fühlt sich nun seit 20 Jahren oder mehr recht heimisch in diesem Dorf, mit spielerischer Leichtigkeit bewegt man sich in den kleinen Gassen. In diesem Zusammenhang ist es doch naheliegend, dass gleichartig gestrickte Menschen neue Kapazitäten entwickelt haben und ihre Gedankenströme enger führen können.

Dem Gedanken der Telepathie zugeneigten Menschen sagt man nach, eher kreativ, musisch oder spielerisch veranlagt zu sein. Eben jene Kapazitäten hebt McLuhan jedoch in seiner Beschreibung der vollumfänglichen Welt der direkten und totalen Interaktion hervor. Die nüchterne Distanz der drucktechnisch geprägten Ära ist im Global Village nicht mehr aufrechtzuerhalten.

(Ein anachronister Witz übrigens, ausgerechnet darüber jetzt ein Buch schreiben zu wollen.)

Vielleicht aber lässt sich auf der bevorstehenden Reise in das blaue Nichts etwas mehr in Erfahrung bringen über diesen hybriden Geister in ihren quasi-telepatischen Netzwerken.

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