Ausnahmsweise sind die Jungs mal etwas nervös. Das kommt ansonsten nicht vor, dabei sind wir eigentlich immer zu spät unterwegs, mindestens aber knapp, eben gerade so eben. Heute nur ist es ein wenig anders, der andere hat schon angerufen. Die Ladung stehe jetzt zur Abholung bereit. Da muss tatsächlich auch die sonst so heilige Laid-back-attitude mal über die Klinge springen.
Jetzt springt auch der Truck nicht an, was natürlich auch daran liegen mag, dass es überhaupt das erste mal ist, dass wir ihn in Bewegung setzen wollen. Meistens steht er nur blöd in der Einfahrt rum und wird der Witterung überlassen, ein echter Truck, mehr LKW als Pickup. Auch mit Starthilfekabel braucht es ein paar Versuche, aber nachdem er einmal gezündet hat, dieselt er eigentlich sehr solide vor sich hin, nur die Fenster lassen sich halt nicht mehr hochkurbeln. Rückspiegel gibt es auch keine, aber wozu auch zurückschauen, was gäbe es denn dort noch zu sehen.
Fünfzehn Meilen und fünfzehnhundert Fuß bergabwärts, und dann auf der anderen Seite des Tals wieder hoch. Schon wieder klingelt das Telefon, wir fahren der Zeit hinterher. Der Mann mit dem Hühnerfutter ist Mennonite, heißt es, auf einmal, es soll in dieser Gegend ja eine ganze Menge davon geben. Gehört hat man ja schon mal davon, worum genau es dabei geht weiß keiner von uns.
So wie die Amish People etwa, irgendwas in dieser Art. Nur mit weniger moderner Technik, oder sogar mit mehr, die Jungs wissen es nicht so genau. An irgendwelchen alten Dingen oder Regeln halten sie halt fest. Am Haus des Mannes soll geschrieben stehen: This is not my home, I’m just a passer through. Das nimmt mich gleich schon mal für ihn ein.
Der Hof auf dem wir dann ankommen ist deutlich größer und und wirkt auf den ersten Blick besser geordnet als unserer. Inklusive einer hübschen Ansammlung von schwerem Gerät und landwirtschaftlichen Maschinen auf großen Rädern. Also ohne Technik ist hier schon mal nicht.
Edwin kommt umgehend auf uns zu gelaufen, sauber und diszipliniert gekleidet, sachlich und gleichermaßen entspannt. Von innerer Unruhe oder vermeintlicher Nervosität ist nicht die geringste Spur.
Western Video Market steht auf seiner fachmännisch zurecht gebogenen Baseball-Kappe gestickt, er begrüßt uns freundlich und ohne Überschwang. Der Bart ist nach alter Mode getrimmt und erstreckt sich überwiegend unterhalb des Kinns. Die Hände werden in der Latzhose bequem verstaut. Dann wird erstmal eine ganze Weile vom Geschäft gesprochen. Der Blick ins Tal ist weit, viel weiter als man hier in Buchstaben darstellen könnte, der Oktober ist noch jung, die Mittagssonne lässt die Szenerie fast frühlingshaft erscheinen.
Einmal pro Woche fährt Edwin nach Nevada, zehn Stunden für eine Strecke. Entlang des US Highway 50, des einsamsten und schönsten Highways im amerikanischen Westen und darüber hinaus. Hundert Meilen und mehr in einer geraden Linie, plus Jackrabbits, massenweise Jackrabbits, groß und schnell und dumm.
Edwin beschafft dann Bean Meal für 125.000 Vögel, organisches Sojafutter für organische Freilandeier, die er anschließend an die ganzen Bio-Supermärkte im Großraum Denver verkauft. Er alleine hat 15.000 Vögel in einer großen Halle, die anderen 110.000 sind über die Hügel verteilt. Edwin zählt uns die Bauern alle namentlich auf und wer wie viele Hühner hält. Was außer dem Bean Meal in dieser Aufzucht sonst noch organisch sein soll wird ohne penetrantes Nachfragen nicht klar, ich lasse es trotzdem sein.
Ebenso wenig wird klar, warum Edwin jede Woche nach Nevada fahren muss, mitten rein in den Sündenpfuhl aus Glücksspiel, Drogen und Prostitution, warum er das selbst und persönlich zu erledigen hat. Wahrscheinlich ist aber wieder nur meine Phantasie zu versaut.
Deutlich klarer wird, warum die amerikanischen Hippie-Jungs so seltsam nervös wurden. Zwei Welten, die hier aufeinandertreffen, Dreadlocks auf der einen, der rituell geschnittene Bart auf der anderen Seite, und beide Seiten sich wohl voneinander bewertet oder gar beurteilt.
Sie hätten noch nie so viel und lange gesprochen wie heute, werden die Jungs später feststellen, fröhlich überrascht. Das liegt wohl auch an mir und meiner deutschen Herkunft, immer ein guter Punkt, um Gespräche und Gemeinsamkeiten daran anzuknüpfen.
Die Mennoniten sind größtenteils deutscher Herkunft, Edwins Familie stammt aus der Schweiz. Kein Wunder, dass sie sich hier niedergelassen haben, im Westen der Rocky Mountains.
Der Gottesdienst (service) wird in Pennsylvania Dutch abgehalten, einer alten Hybridsprache, von der ich überhaupt zum ersten mal höre. Veraltete Information, ancient lingo, transatlantisch und nicht totzukriegen. Wie es wohl um die Lebhaftigkeit des Western Video Market bestellt ist, könnte man sich fragen, ob es den denn überhaupt noch gibt. Noch interessanter, oder schlicht merkwürdiger, wird genau diese Kappe, wenn man später davon lesen wird, dass die Mennoniten insbesondere den Gebrauch moderner Medien ablehnen oder mindestens sehr kritisch betrachten. Das aber wirklich nur ganz am Rande, ein charmanter Widerspruch ist es allemal.
Edwin träumt und spricht von einem Rail In, einem monatlichen Güterzug für sein organisches Bean Meal für die zigtausend Vögel hier in Bird Central, Colorado. Er hat sich das schon durchgerechnet, die Rede ist von Millionen von Scheinen, die Schiene liegt, alles was es jetzt noch braucht ist die Verladestation. So schnell sind wir zurück im wilden Westen, ganz so wie es auf seiner Schirmmütze geschrieben steht. Von dem chinesischen Rail In nach Europa hat er bislang noch nichts gehört, hört mir dann aber gerne und ernsthaft interessiert zu. Ein wöchentlicher Zug von China bis in den Hafen von Duisburg, hauptsächlich für Elektronikartikel, billiger als Luftfracht, schneller und vor allem sicherer als das Schiff.
So wie es immer war auf den Höfen, talking shop, trading lore, ob nun in Pennsylvania Dutch oder in post-digitaler Molekularsprache.
Irgendwann wird auch schließlich unser Bean Meal auf den alten Ford F-250 Lariat gehievt, mit Edwins modernem Gerät ist das keine große Mühe. Ein Brett wird auf den offenen Sack geschmissen, auf dass sich das Futter auf der Fahrt zurück nicht komplett über das ganze Tal verweht.
Wir dieseln davon, während Edwin völlig unaufgeregt zurück zu seinem Haus schlendert, das nicht auf ewig sein Zuhause sein wird oder kann. He’s just a passer through, none of this is written in stone.
(aus: The Grotto – 2017, mit besonderem Dank an die Galerie Kai Erdmann)