Es wird ein sonniger und gestochen scharfer Morgen in Gotham City sein. Keine Spur von dem schaurigen Gefängnishochhaus, das sich mitten aus der glattpolierten Downtown erhebt. Oder von den vier Ex-Gouverneuren des Bundesstaates Illinois, die innnerhalb der letzten Jahre wegen Korruptionsvergehen verurteilt wurden.
Nein, ich werde unbeschwert durch die Straßen streunen und auf diesem Wege ein ganz vorzügliches Farewell Frühstück verdauen, das ich zusammen mit Erection eingenommen habe, einem meiner Gastgeber im Raumzeitalter. Im Stadtteil Noble Square bietet sich die Gelegenheit für einen echten Zen Haarschnitt. Und zwar bei Reuben’s Unisex, genau gegenüber der Schwimmhalle, auf deren gigantischer Fensterfront “WALK DON’T RUN” in gespiegelter Schrift geschrieben steht. Nur sollte man nicht auf die Idee kommen, in nächster Zukunft einen Zug erreichen zu wollen. Der mexikanische Zen Master mit dem sich grau färbenden Pferdeschwanz neigt nämlich dazu, sein Kunstfertigkeit auf die Spitze, und auch darüber hinaus zu treiben. Bald kommt es mir vor, als ob er mich mit Absicht hier schmoren liesse. Als Preis sozusagen für den Mangel an Respekt, den ich seinem Berufsstand entgegen bringe.
Pero Senor, wünsche ich zu erklären, nicht ich bin schuld, es ist die Zeit in der wir leben, ich bewege mich in der korrekten Geschwindigkeit. Wenn doch nur mein Spanisch etwas besser wäre. Die besten Männer dieses Handwerks sprechen nämlich kein Englisch.
Kurz nach Mittag dann wird mich der Amtrak Wolverine schon wieder herausgetragen haben aus Gotham City, nach drei sehr schnellen und regenverhangenen Tagen in der “Stadt die funktioniert.”
In Chicago anzukommen war alles andere als schwer. Ich bin förmlich hineingeschwebt, auf der Metarail aus Aurora, getragen von reinstem, grenzenlosen Urvertrauen. Irgendwie war es mir dann ja doch gelungen, mich durch Hymie’s holzbeiniges Geschwafel und die Einöde des gottesfürchtigen Nebraska hindurchzufuttern.
Kaum drei Stunden ist es jetzt her, dass Jose mich aus meiner misslichen Situation vor der Truckstop Oase erlöst hat, mit seinem tip top gepflegten VW Jetta und den spitzen Gangsterschuhen. Und schon sitze ich wieder an einer Bar und schlürfe trendige Bierspezialitäten, zusammen mit Casey und Oliver, zwei neuen, flüchtigen Einträgen in das Buch des Wandels.
Casey lebt dieser Tage in seinem Auto, einem gewöhnlichen PKW, nicht etwa einem Bus oder einem Van. Die hellsten Köpfe unter dem Radar wohnen anscheinend vorzugsweise im PKW. Casey ist gerade Zuhause rausgeflogen, bzw. kommt er aus einer Scheidung, wie es aussieht ist er aber auch vielleicht etwas zu weich und ausweichend, um ener Frau auf lange Sicht die Stirn zu bieten. Wie ein begossener Pudel steht er nun hier an der Theke und nippt demütig an seinem Bier während sein Haar langsam dünner wird.
Oliver auf der anderen Seite ist ein spät gezündeter Lebemann. Er stammt aus den malerischen Hamburger Walddörfern, von wo er schon in den 80er Jahren zusammen mit seinen Eltern ins Chicagoland eingewandert ist. Schenkt man seinen Worten Glauben, so finden sich einige Appartments in seinem Besitz, zusammen mit zwei Porsche. Einem Oldtimer-Modell und einem weiteren, mit dem er Autorennen fährt. Zwei oder drei seiner Fingernägel sind schwarz lackiert, aber er ist ja auch ein Burner, der erste Grund, warum Erection mich in diese Bar geschickt hat. Genaugenommen habe ich nicht die leiseste Idee wer alle diese Menschen sind, aber wir leben nun mal in schnellen Zeiten und zügig werden neue Biere vor uns auf die Bar gestellt. Es ist Two Dollar Tuesday und wir sind zu Gast bei Estelle’s, einer dieser prototypischen, hipsteresken Dive Bars, gerade ein paar Schritte entfernt von der Haltestelle Damen auf der Blue Line der Chicagoer Schnellbahn. Sehr viel mehr braucht es auch nicht, um immer wieder in diesen kunstvernarrten und selbstverliebten Vierteln aufzutauchen, aus denen es für unsereins wohl kein Entrinnen gibt.
Man kommt nicht raus aus dem System, höre ich den Cityfox in solchen Augenblicken sagen, der Versuch alleine ist töricht. Neuerdings ist seine zickige Ader wieder zum Vorschein getreten. Ich habe mich wohl ein bisschen zu wenig um ihn gekümmert und insgeheim fürchtet er natürlich, dass ich hier neuen Strömungen auf der Spur bin, die an ihm vorbeilaufen. Wie die meisten anderen auch benötigt der Cityfox kontinuierliche und verlässliche Aufmerksamkeit. Post Informational Geeks sind nun mal extrem empfindliche Geschöpfe.
Auch Casey könnte man getrost als post informational bezeichnen. Er beschäftigt sich nämlich mit der Wiederherstellung ursprünglichen Lebensraums. Und damit erweitert er unser Konzept der Dritten Landschaft um eine vierte Dimension. Endlich stoßen wir also mal wieder an ein etwas tiefgründigeres und ernsthafteres Thema, davon wollte dieses Buch ursprünglich ja einmal handeln. Doch allem Anschein nach habe ich mich schlichtweg verloren, im Taumel des Zeitgeschehens. Und so wie es gerade aussieht finden wir nur hier, in solch flüchtigen Thekengesprächen die Zeit für das, was wirklich zählt.
Dabei spukt das Konzept der Dritten Landschaft nun schon eine lange Weile in meinem Kopf herum. Beinahe könnte man es als den theoretischen Unterbau für den Großteil meiner Erkundungsreisen verstehen. Ein natürlicher Ansatz ist es allemal, wenn man das Unterholz des 21. Jahrhunderts erforscht. Die Idee einer Dritten Landschaft hängt in enger Weise mit einem Buch von Stephen Meyer zusammen, in dem er das Ende der Wildnis vorhersagt. Meyers Einschätzung zufolge werden wir im Laufe der nächsten 100 Jahre einen radikalen Verfall der Artenvielfalt auf unserem Planeten erleben. Der Kampf um die Biodiversität der Erde ist demnach lange verloren. Was genau uns danach erwartet ist nicht eindeutig vorherzusehen, jedoch könnte es eine Art neuer Superkontinent sein, ein hybrides Pangaea. So zumindest lautet die These des französischen Gärtners und Schriftstellers Gilles Clément, auf den das Manifest der Third Landscape zurückgeht.
Diese neue, synthetische Biosphäre wird sich unter anderem durch den “Aufstieg des Schleims” aus den Weltmeeren auszeichnen. Zu größten Teilen wird sie von unkrautartigen Lebewesen bevölkert sein, den Weedy Species. Darunter fallen beispielsweise Karnickel, Koyoten, Käfer, Grauhörnchen oder Cityfüchse. Marihuana zählt man ebenso zu diesen Weedy Species, wie man auch die entsprechende Gattung Mensch so interpretieren kann.
Unwirsche, schmutzig vermischte Kreaturen, die in der Lage sind, in aufgegebenen Landschaften oder Orten am Rande der Wahrnehmung zu gedeihen. Unentschlossene Gegenden ist ebenso ein Ausdruck, also vielleicht die Art von Welt, durch die auch dieser Text oft pflügt.
Zurück zu Casey, der in einem amerikanischen Bundeslaboratorium mit der Absicht beschäftigt ist, so etwas wie den uranfänglichen Lebensraum des Kontinents wiederherzustellen. Also befreit vom grauen Einheitsbrei der global verteilten Weedy Species. Caseys Anstrengungen spielen sich in einem ganz anderen Zeitrahmen ab. Wir reden hier von 500 Jahren oder mehr. Damit hängt es dann vielleicht auch zusammen – verstärkt um den Schock seiner Scheidung – dass er sich nur eine Woche nach unserer durchaus nicht oberflächlichen Unterhaltung schon nicht mehr an mich erinnern kann.
Der Mensch neigt eben dazu, das Jetzt außer Acht zu lassen. In diesem speziellen Fall ist es die letzte Runde in Estelle’s Bar, nach deren Verzehr Oliver mit uns über die nass glänzenden Straßen des frühnächtlichen Chicagolands prescht. Von seiner Innenseite ist er ebenso durchnässt wie schon so viele andere amerikanische Autofahrer, denen ich mein unbedeutendes Leben auch anvertraut habe. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, das diese Art von Rave on Wheels hierzulande sehr viel beliebter ist als da wo ich herkomme.
Perfect Strangers, alle miteinander, wie wir da in diesem motorisierten Schneckenhaus die leergefegten Boulevards herunterjagen, auf dem Rücksitz zusammengepfercht, zwischen Casey’s Arbeitsanzügen und Herbstmänteln. Ziel der nächtlichen Geisterfahrt sind die frühmorgendlichen Zungenfreuden bei Lazo’s Tacos.
Ich selbst bin nun soweit, sämtliche Übernachtungseinladungen kühn auszuschlagen, denn in der Zwischenzeit habe ich mich in die Idee verliebt, den Rest der Nacht an der Kreuzung von La Salle und Jackson Street zu verbringen. Dort findet man Gerüchten zufolge das Camp von Occupy Chicago.
Wir schreiben Mitte Oktober, die Occupy Bewegung ist jetzt fast einen Monat alt und hat sich in der Zwischenzeit einmal um den Globus gesponnen. Angefangen hat alles mit dem arabischen Frühling, auf dem Tahrir Platz in Kairo, pflanzte sich fort auf Madrids Puerta del Sol, und ist jetzt in New Yorks Zucotti Park angekommen.
Seit der ersten Belagerung der Wall Street am 17. September ist die Welle dann einmal über den amerikanischen Superkontinent gerollt und hat Parks und öffentliche Plätze im ganzen Land für sich eingenommen. In den USA und auch weit darüber hinaus. Niemand weiß, wohin genau diese Bewegung führen und ob sie irgendeine Wirkung erzielen wird. So oder so kann man Occupy Wall Street und ihr digital wie analog verbreitetes #OWS-Tag als die erste global verstandene Marke der Gegenkultur verstehen. Stand heute zählt der revolutionäre Flurfunk um die 1500 Städte weltweit, in denen man Protestcamps und Demonstrationen unter diesem Banner organisiert. Und wie zu erwarten war, sind alle diese Menschen sehr gut informiert, denn endlich werden die Social Media Netzwerke ihrem vernünftigen Zweck zugeführt.
Die Occupy Bewegung ist die erste Erscheinung der sogenannten Schwarmintelligenz, die über die Mittel verfügt, die tatsächlich bestehenden Herrschaftsstrukturen unserer globalisierten Welt offenzulegen. Die verfilzten Machtbeziehungen zwischen global wirtschaftenden Industriemultis auf der einen, und den stark limitierten, bestenfalls pseudo-demokratischen Regierungen auf der anderen Seite. Endlich, so scheint es, erwächst eine Bewegung, die groß genug ist, um genau diese Information auch in der weißen Mittelschicht publik zu machen. Beim Fußvolk des großen Geldes, wo man sich sonst lieber mit den Produkten der Medien- und Pharmaindustrie kuschlig betäubt hält. Zumindest wäre das der wünschenswerte Fluss der Information.
In Städten wie Denver oder eben auch Chicago bekommt die unsichtbare Herrschaft hinter den Jalousien bereits kalte Füße. Man schickt die ersten Trupps aufgepeitschter Riot Cops los und lässt Occupy-Aktivisten in großen Scharen verhaften. Übertriebene Angst, wie es scheint, denn in Nordamerika steht der Winter vor der Tür, und alleine diese Tatsache wird in den meisten Städten extrem campfeindliche Bedingungen herbeiführen.
Ob nun im mittleren Westen, rund um die großen Seen, oder selbst in New York ist es schlicht und ergreifend unmöglich, die Wintermonate im Freien zu verbringen. Gerade hier in Chicago, wo die revolutionäre Ortsgruppe zwar auf todesmutige Entschlossenheit bauen kann und mit ihren aus Müllfässern bestehenden Trommeln auch für mächtig Lärm sorgt, aber wohl kaum eine ernsthafte Bedrohung unternehmerischer Macht darstellen dürfte.
Am letzten Wochenende hat man sie aus dem Grant Park entfernen lassen, so dass sie dieser Tage noch nicht einmal ein Camp ihr eigen nennen können. Occupy Chicago reduziert sich auf ein halbes Dutzend unerschrockener Desperadoes, die hier zu Füßen des allmächtigen Chicago Board of Trade auf der Ecke eines Bürgersteigs ausharren.”C-Bot” nennen sie dieses beängstigende Gebäude in ihrer rauen und ungeschminkten Comic-Sprache.
Kein Zufall, denn Chicago bildete die Kulisse für die letzten beiden Batman-Filme, recht erfolgreich sogar, konnte man doch aus einem reichen Pool an organisiertem Verbrechen und institutioneller Korruption schöpfen, eben jenen Qualitäten für die Gotham City weithin bekannt ist.
Die angrenzende Bank hat bereits eine Reihe von Polizeigittern aufstellen lassen, um den Demonstranten auch jenes bisschen Schutz zu verwehren, welchen die Mauern des Gebäudes unter Umständen abwerfen könnten. Zwei private Sicherheitsmänner sind abgestellt, um die Einhaltung dieses Schutzabstands zu überwachen.
Weiterhin existiert eine Verfügung der City of Chicago, die es den Occupy Leuten untersagt, sich in irgendeiner Form auf dem Boden niederzulassen, egal wann. Der gesamte Protest hat eine bewegliche Veranstaltung zu bleiben. Selbst der zur Ausgabe des gespendeten Essens verwendete klapprige Tapeziertisch muss auf Rollen installiert sein. Alles, Gegenstände wie Menschen, muss zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt bewegt werden können. Ein kleiner, wilkürlicher Wink der staatlichen Gesetzeshüter muss ausreichen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lauert verstohlen ein Police Interceptor – die Cop Version des Ford Crown Victoria – und setzt die lückenlose Überwachung perfekt durch. Wortlos unterstützt von den gespenstischen Kameraglocken in ihrer anonymen Bedrohung. In Paaren hängen diese monströsen Kamerabälle über so ziemlich jeder Straßenecke der Chicagoer Innenstadt. Mehr als alles andere in dieser Nacht entsetzt mich die widerliche Unverfrorenheit dieser Einrichtung. Es reicht nicht, dass man uns Tag und Nacht ausspioniert. Nein, sie möchten, dass wir auch sehen, dass es passiert!
Über die Machtverhältnisse in dieser Gegend darf nun keinerlei Zweifel mehr bestehen. Unsereins ist kaum noch einen Scheißdreck wert. Und dabei war dies alles hier doch einmal öffentlicher Raum. Die Menschen in Chicago wirken dementsprechend noch verängstigter als anderswo. Gehetzt rennen sie durch einen endlosen Tunnel ins Nichts, vermeiden jede Form von Blickkontakt. Die ganze Geschichte schmeckt ungesund nach einer billig wieder aufgewärmten Version von George Orwells 1984. Eine kleine Handvoll furchtloser, freigeistiger und warmherziger Hippie-Rebellen, die hier auf der Straße dem übermächtigen Goliath des internationalen Großkapitals entgegentreten. Doch leider ist es eben jene Geschichte, die zu erzählen ist. So brutal real und alltäglich, dass wir in der Regel dazu neigen, sie vollständig aus unserer Wahrnehmung zu verdrängen.
Trotzdem, besser deswegen, spüre ich nicht einen Moment des Zögerns in dem herzlichen Empfang, den mir die fest geschnürte kleine Gruppe von Randgestalten im Dunkel Gothams bereitet. Da ist zum Beispiel Soldier Boy, ein ehemaliger Marine, dessen geistiger Zustand irgendwo zwischen Depression, bipolarer Störung und Schizophrenie zu verorten ist. So beschreibt er sich jedenfalls selbst. Er ist komplett am Arsch, wenig bis Null Impulskontrolle, was ihn aber nicht davon abhält, aus einem Gehirn so klar wie Wasser zu referieren. Dabei schreitet er in seinem altmodischen Armeemantel die paar Meter des Bürgersteigs kontinuierlich auf- und wieder ab.
Der manische Prophet eines abgebrannten 21. Jahrhunderts. Alles hier fühlt sich an wie die Fusion aus Fight Club, Twelve Monkeys, Mad Max und Matrix, zusammengeklebt in einem einzigen, verquirlten Bewusstseinsstrom. Und in gleicher Weise wird offenbart, wie übersättigt und medial verbraucht wir alle wirklich sind. Wenn man genauer hinhört, so hat Soldier Boy einiges mehr anzubieten als den ausgelutschten Mix aus Verschwörungstheorien und Postapokalypse made in Hollywood. Er weiß tatsächlich Bescheid über ein paar praktische Dinge, wie zum Beispiel die richtigen Stiefel und Messer für hier raußen, oder wie man sich geschickt von innen heraus aufwärmen kann.
Wieder einmal treffe ich hier auf einen hochintelligenten und belesenen Haufen, der sich bei dem langsam einsetzenden Regen unter der knapp bemessenen Plastikplane verkriecht. Und dennoch bewegen sie sich allesamt eng um diese verschmierte Grenzlinie zur Obdachlosigkeit. Wahrscheinlich überraschen uns diese Feststellungen auch nicht mehr wirklich, handelt es sich doch vielmehr um die allzu üblichen Lücken in der Verteilung urbanen Lebens.
Fred hat seit Jahren nicht mehr gearbeitet und verfügt weder über eine Kreditkarte noch ein Bankkonto. Auch heute Nacht ist er noch auf der Suche nach einem Unterschlupf für den herannahenden Tag, natürlich nie, ohne vorher einen sehr ansehnlichen Joint zu rauchen. Lässt man diese Information beiseite, so trifft man einen äußerst aufmerksamen jungen Mann der leisen Töne, der Vernunft völlig aufgeschlossen, des Zuhörens fähig und dadurch in der Lage, Synthese durch Sprache herzustellen.
In diesem Augenblick ist es mir lange egal, wohin diese gesamte Protestbewgung unterwegs sein könnte. Nicht nur, dass es ihr gelungen ist, das wahre Verhältnis der Kräfte in unserem post-nationalen Zeitalter globaler Unternehmen auf sehr scharfe und präzise Weise offenzulegen. Vielleicht noch viel bedeutsamer ist die erfolgreiche Wiederherstellung von Gemeinschaftssinn unter den Occupy-Aktivisten. Ein einfacher und unmittelbarer Sinn, den man in der egomanen, empathiebefreiten digitalen Wunderwelt längst verloren geglaubt hatte.
Es ist nun auch lange offenkundig, dass es in dieser Nacht keinen Schlaf mehr geben wird, der Regen gewinnt kontinuierlich an Dichte und Gewicht. Soldier Boy befindet sich dabei in einer Win-Win-Situation. Er zieht die Körperwärme von Solo, dem kleinen Hund eines Hobo-Punk, den er mit sich unter seinem Armeemantel trägt. Der Rest unserer Truppe rückt immer enger unter dem oliven Plastikdach zusammen, ein ausgezehrtes und kaum bedrohliches Häuflein im asphaltenen Unterholz. Und schon im Moment des Geschehens als einer der herausragenden, orange strahlenden Höhepunkte meiner gesamten Reise hellwach erlebt.
Unter den Kids tauscht man Gerüchte über den sogenannten 19. Stock. Dabei handelt es sich um die komplette Etage eines nahegelegenen Bürohochhauses. Dort gäbe es einen Kamin, einen Whirlpool, und sonst auch alles, was man sich hier draußen wünscht. Irgendein geheimnisvoller Geschäftsmann hat ihnen diesen 19. Stock für die bevorstehenden Wintermonate versprochen, es hört sich an wie eine Fata Morgana. Wenn etwas zu gut ist um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch nicht, das wissen sie hier.
Die nächste Frage rund um diesen ominösen 19. Stock wäre dann, wo man denn die Grenze zwischen okkupierenden Demonstranten und den etablierten Obdachlosen zu ziehen hätte.Eine höchst brisante Frage, die sich einmal quer durch die gesamte Bewegung zieht.
Obdachlosigkeit ist natürlich nur ein Phänomen des Problems, das man von Seiten Occupys herausfordern und zersetzen möchte. Gleichzeitig bringen die Stammbewohner der Straßen eine Reihe eigener Schwierigkeiten mit in die Camps; Alkohol wie Drogen, Reibereien und Krankheiten. Höchst problematische Themen, die den notwendigen Dialog mit städtischen Vertretern verkomplizieren, und noch gefährlicher, die breite Akzeptanz der Bewegung innerhalb der amerikanischen Mittelschicht untergraben können.
Aktuell hat das Chicagoer Grüppchen Zugang zu einem Nachtasyl im Grace Place, einem kirchlichen Gemeindezentrum ein paar Blocks von hier entfernt. Offen von Mitternacht bis sechs Uhr früh, um ein wenig zu trocknen und vielleicht sogar ein paar Stunden nervösen Schlafs einzuheimsen. Einmal dort angekommen, findet man den Aufzug zum Keller zunächst verriegelt. Man stampft dann mit den Füßen kräftig auf den Boden und hofft, dass es unten jemand hören und den Fahrstuhl hinabrufen möge.
Mittlerweile ist es jedoch schon fast sechs und just in dem Moment, als wir eine kleine Idee von Wärme unter unserem Plastikdach herbeigeführt haben, entscheidet sich die City of Chicago dazu, die Nacht für beendet zu erklären. Wir haben sofort Platz zu schaffen für die Angestellten, die allmählich damit beginnen, ein kleines Rinnsal an Fußgängern zwischen Bordstein und den Gittern der Bank zu bilden.
Der erste Straßenverkehr des neuen Tages deutet sich an, aus den Eingeweiden Gothams ertönt ein weit entferntes Grollen. Eigentlich mochte ich diese Stunde des Tages immer sehr gerne, beinahe ist es traurig, nun auf der “anderen Seite” zu stehen. Dieser Moment in dem man realisiert, dass die dunkelste Passage der Nacht überwunden ist, das losgelöste Geräusch einzelner Motoren, das im nächsten Augenblick zu einem ersten, durchgängigen Strom angeschwillt.
Auch der Regen hat in der Zwischenzeit zu einem gleichmäßigen Schritt gefunden. Man drückt mir einen Regenschirm in die Hand, während ich beobachte wie einer der politischen Anführer der Gruppe zerknautscht aus dem PKW klettert, in dem er sich für die Nacht verkrochen hatte. Meine beiden Rucksäcke mitsamt all meinem Hab und Gut sind zu diesem Zeitpunkt gründlich und vollständig durchnässt.
This is what democracy looks like!
Weiterhin tauschen wir revolutionäre Einsichten aus und versuchen auf diese Weise, gegenseitig unsere Widerstandskraft zu stärken. Nicolas, ein sehbehinderter junger Intellektueller, dessen Verhaftung vor ein paar Tagen die Frontpage der Huffington Post zierte, bringt den McDonalds ums Eck ins Spiel. Für Kaffee und trockene Wärme.
Ein Widerspruch in sich selbst, und doch klingt es für mich wie das gelobte Land. Das Leben unterhalb des amerikanischen Radars sollte ohne Autos und Fernsehen stattfinden, und ganz bestimmt ohne Hamburgerbratereien im Franchise-System.
Ich werde sie auch später hier treffen, bei taktischen Meetings, oder in sich zusammengesackt an den schmalen Sitztheken, eher hängend als sitzend, eingenickt über verschränkten Armen, während das Iphone über die Wandsteckdose Strom saugt.
Ach, zur Hölle mit meinen Prinzipien. Hier drinnen ist es trocken und warm, an einem Morgen der so aussieht, als ob er nie das Tageslicht sehen wird. Der Kaffee kostet $ 1,11 in allen verfügbaren Größen, Steuer inklusive, und in der Filiale am Ende der Straße braucht es nicht mal einen Schlüssel für die Toilette.
Diese McDonalds Outlets in der Downtown von Chicago ziehen einen wilden Mix an Kreaturen an, aus Arbeitsbienen und Elementen der unteren Randschichten. Das Verkaufsteam hinter dem Tresen ist zu 100% weiblich und zu 100% hispanisch. Mit eisernen Gesichtern pushen diese Ladies den Abverkauf von Schnellfutter und Heißgetränken, ganz als ob sie Chrystal Meth unters Volk zu bringen hätten.
Der Rest des Morgens vor dem massiven C-Bot verstreicht erwartungsgemäß in Zeitlupe. Längst bin ich aus jeglicher Art von Bezugsrahmen herausgerutscht. Schlafentzug ist und bleibt ein höchst verlässliches Halluzinogen. Ein nicht abreißender Strom an Essens- und Getränkespenden fließt in die behelfsmäßige Küche auf Rädern. Vereinzelte Bürobedienstete zeigen sich verärgert über die Störung, die wir in ihrem Hamsterrennen verursachen, wieder andere sprechen uns Mut und ihre Unterstützung zu.
Wie ebenfalls zu erwarten war, wechseln sich Erschöpfungszustände mit euphorischen Kicks ab. Der Widerstand, den wir hier Gegnern aus Finanzindustrie und Witterung entgegensetzen feuert in unregelmäßigen Abständen Adrelinshots in meine Venen. Auch um diese Zeit des Tages ist es ein ziemlich widerspenstiger und ungehobelter kleiner Stamm hier draußen, nicht mehr als 30 Mann stark, ohne Pause prügeln sie auf die alten Müll- und Wasserfässer ein.
Dominiert wird das Straßenbild allerdings von Anzügen und Kostümen aus langweiligsten Grau, die ohne jede Notiz an uns vorbeihasten. Welcome to Chicago, Motherfucker!
Die “Große Zwiebel” ist zweifelsfrei die am schnellsten getaktete Stadt auf meiner bisherigen Reise. Keine Frage, hier schlägt das Maschinenherz des Mittleren Westens, Chicago ist eine Alpha Plus Weltstadt, sie haben hier doch keine Zeit für diesen naiven Scheiß.
Und schon wieder sieht es für mich so aus, als ob dieses ganze Occupy Ding doch nur die untersten 1% der Gesellschaft anspricht, die verzweifelt versuchen, die 98% der kleinen Zahnräder in der großen Maschine aufzurütteln. Die wiederum tun so, als ob sie das alles nichts anginge. Eine irrelevante Randgeschichte bestenfalls, beeil Dich lieber mal, lauf noch schneller, sieh bloss zu dass Du in Deine Arbeitsbox kommst, die Banken wollen nämlich noch mehr.
Occupy 2011 und seine Demonstranten haben keine klar gestochenen Antworten oder Ziele anzubieten. Ein Umstand, aus denen man ihnen in der Öffentlichkeit gerne einen Vorwurf dreht. Stattdessen klammern sie sich an nahezu utopische Ideale. Wie zum Beispiel die 90% Supermehrheiten, die es in jeder Ja-oder-Nein-Abstimmung braucht. Oder den vollen Respekt, den sie auch der noch so abwegigsten kleinen Meinungsverschiedenheit entgegenbringen möchten.
Meistens werden solche Meinungen von extrem leidenschaftlichen und doch eher ungeschickten Anhängern der unbedingten freien Rede vorgetragen. Und trotzdem sind die täglichen Generalversammlungen völlig tadellose Lehrstunden in Basisdemokratie und der Wiederherstellung der freien Rede. Nicht zwei Generalversammlungen werden je gleich aussehen oder ablaufen. Und von meinen ganzen Freunden werden in diesen zwei Monaten nicht mal Zehn an einer teilgenommen haben.
Obwohl die Bewegung gerade mal einen Monat auf dem Buckel hat, hat sich bereits ein präziser Regelsatz für diese Veranstaltungen herauskristallisiert. Mehr oder weniger aus dem Nichts konstruiert und verbreitet mit der Eile der Information.
Wie zum Beispiel des Volkes Mikrofon – das People’s Mic -, geboren aus der Not von Occupy Wall Street, wo sie keine Megafone einsetzen dürfen. Es macht tatsächlich Sinn, denn das People’s Mic verstärkt die Aussagen des Sprechers und trägt einfach zum besseren Verstehen bei.
Ein wenig fühle ich mich immer an Brian Cohen aus dem Monty Python Film erinnert, den harmlosen Trottel, der über Nacht zum Prophet erhoben wurde. Wie er da am Fenster seiner Wohnung steht und seine schlagartig explodierte Schar an Jüngern plappert jedes seiner Worte Eins-zu-Eins nach. Das Volksmikrofon hört sich manchmal ebenso trottelig oder albern an, doch tatsächlich bringt es den geübten Sprecher dazu, sich kurz und präzise zu fassen.
Am heutigen Tag sind die verschiedenen Generalversammlungen mit der Frage beschäftigt, wo man denn nun den Lebensraum für das Occupy Camp wiederherstellen soll, bzw. überhaupt könnte. Die erzwungene Vertreibung aus dem Grant Park hat einiges an Unordnung und Ratlosigkeit hinterlassen. Um die 200 Occupier wurden zudem verhaftet und mit saftigen Bußgeldern belegt.
Die “Stadt die funktioniert” genießt einen recht zweifelhaften Ruf, wenn es um die öffentliche Äußerung von Protest geht. Natürlich denkt man schnell an das Jahr 1968, als der damalige Bürgermeister und Cityboss Richard J. Daley die studentischen Kundgebungen rund um den Demokratischen Kongress aufs brutalste niederknüppeln liess.Hunter S. Thompson war damals angereist, um als Journalist über diesen Kongress zu berichten. Zurück kehrte er eigener Aussage zufolge als rasendes Biest.
Das scheint eine Ewigkeit her, wir schreiben das Jahr 2011, doch Fakt ist auch, dass Herr Daleys eigener Sohn, Richard M. Daley erst vor ein paar Monaten zurückgetreten ist. Nach einer Regentschaft von über 22 Jahren!
Dem Anschein nach war Chicago also noch nie ein sehr freundlicher Ort für die öffentliche Äußerung von Unzufriedenheit. Und jetzt, wo der Monat Oktober langsam aus der Windy City herausgeblasen wird, umfasst die Entscheidung für ein neues Camp auch einige, sehr konkrete meteorologische Herausforderungen.
Die Winde, die vom Lake Michigan herüberkommen, können problemlos 100 und mehr Kilometer pro Stunde erreichen. Das reicht allemal, um auch das letzte Fitzelchen wärmenden Bluts aus dem menschlichen Körper zu pressen. Die Sichtbarkeit des Camps in der Stadt spielt ebenso eine Rolle wie Fragen der Sicherheit. Ausnahmsweise könnte sogar die Flut der Überwachungskameras einen positiven Beitrag leisten. So glauben die Sprecher der Generalversammlung beispielsweise, dass die Videokameras der nahegelegenen Roosevelt University in der Lage wären, Belege für die Gewalt von Seiten der Polizei zu liefern.
Ich selbst werde abgereist sein, bevor sie den nächsten Versuch unternehmen, ihren Lebensraum in Gotham City wiederherzustellen. Doch während meiner drei Tage an der Straßenecke von La Salle und Jackson erkenne ich nicht mal die Spur einer schützenden Unterkunft für die unverzagten Namenlosen, die dort Tag und Nacht Wache stehen.
Am frühen Nachmittag bekomme ich Besuch von Erection, der in seiner Mittagspause kurz vorbeischaut. Er gehört zur Gruppe der zufälligen und unendlichen flüchtigen Bekanntschaften aus Black Rock City. Ich hatte ihn schon ziemlich drängen müssen, bevor er mich endlich auf seine Couch einlud, doch hier und jetzt steht in seinen Augen ehrliche Bewunderung geschrieben.
Und so wie es mir nichts mehr ausmacht, die Leute zwei oder gar drei mal um etwas zu fragen, so fällt es mir zunehmend leichter, anderen meinen Willen überzustülpen. Selbst wenn man dafür Grenzen übertreten muss, die man vor kurzem noch respektiert hätte.
Entschlossenheit ist ein sehr treuer Freund. Nur in Bezug auf Frauengeschichten hilft sie mir bislang nicht weiter, was vielleicht auch an meiner mangelnden Überzeugung für eine jede von ihnen liegen mag. Für mich hat es sich halt noch nie ausgezahlt, halbherzig irgendwelchen mittelprächtigen Weibern hinterherzulaufen.
(OK, für diese Aussage dürft ihr mich gerne hassen, das sollte nicht schwerfallen.)
Erection ist ein langhaariger Sunnyboy, dem die Natur ein breites Lachen und einen kompakten, muskulösen Oberkörper geschenkt hat. Er hing irgendwo rund um Fivish und Divorce herum, damals im Wahnsinn der Wüste. Natürlich hatte er von unserer Verbrüderung und seiner Einladung nicht mehr die leiseste Ahnung, als ich ihn ein paar Wochen nach dem Burning Karneval dann tatsächlich anrief. So easy going und leichten Herzens wie der perfekte Amerikaner eben ist.
Allzu sehr wird er sich auch nicht strecken, um diesen perfekten Stranger in seinem Heim aufzunehmen. Mit all meinem Gepäck lässt er mich auch den letzten Meter bis zu seiner Couch im Stadtteil Noble Square laufen. Aber mittlerweile hat mein Schritt auch den allerletzten Zweifel abgeworfen. In diesem Land möchten sie immer und immer wieder den furchtlosen, beinharten Macker in Dir sehen. Na gut, dann mal los. Gebt mir ruhig noch ein bisschen mehr Regen und Sturmböen. Ich liebe es doch, mich Deinen Regeln zu fügen, Sweet Home Chicago!
Nichtsdestotrotz war Erection anscheinend ein äußerst fleißiger Schüler, als es um die Riten der Passage ging. Er ist Schlagzeuger durch und durch und so kommt es nicht überraschend, dass es ihn ohne Umschweife an die großen Trommeln zieht. Es ist ein völlig heruntergekommenes und abgewracktes Sammelsurium an Fässern und Hölzern, das hier als Trommelkit der 99-Prozenter herhalten muss. Trommeln auf Eimern, es ist der natürliche Sound auf dem Post Informational New Age Hippie Broadway.
Erection braucht nicht lange, um den Rhythmus an sich zu ziehen. Er führt uns in eine Art Rocksteady, upbeatigen Funk, ich folge ihm auf dem fetten, gelben Fass, auf dem quer über den Boden “get fucking angry” gekrakelt ist.
Schon wieder so ein Bild, das tief, tief in meinem Deep Playa Speicher festgeschrieben wird. Erection und ich teilen zügig das Verständnis, dass es wir und nur wir beide sind, die gerade den Beat für einen der Top Finanzplätze dieser Welt vorgeben. Ein archaischer Trommelkodex, dem hier nicht zu entrinnen ist.
Und dazu ist es eine leicht zu ersteigende Bühne. Man schnappt sich irgendeinen Knüppel, schon folgt man dem Beat, shuffle your feet and don’t run with the creeps. Vielleicht so etwas wie selbstgemachte Alchemie, während der Regen dichter fällt und das mickrige Licht dieses Nachmittags schon wieder abstirbt. Die anbrechende Nacht wird mit Sicherheit noch um einiges garstiger als die, an der ich teilhaben durfte.
Deliriös und bis zum Rand voll mit stolzer Erfüllung klettere ich dann in die Blue Line in Richtung Chicago & Milwaukee. Zur gleichen Zeit treffen sich heute Abend die Cardinals aus St.Louis und die Rangers aus Texas für das erste Endspiel der Baseball World Series.
32 Stunden ist es jetzt her, dass ich Ottawa verlassen habe, wieder fühlt es sich an wie ein lichtdurchlässiges Band, das seitdem läuft. Und vor 61 Stunden war es, dass Hymie’s kleiner Wadenbeißer mich kläffend in dem stinkenden Van begrüßt hatte. Das aber muß Teil eines anderen Lebens gewesen sein.
Im Noble Court bereiten mir Bushwick und Q-Tip einen freudigen Empfang, die beiden rappenden Kater von Erection. Vor allem der silbern leuchtende Bushwick Bill kann nicht genug bekommen vom Duft der Tinte auf der Feder meines Füllers. Während ich langsam aber sicher in den unergründlichen Tiefen der ledernen Couch versinke.
Leise und beständig läuft das Reinigungssystem eines voluminösen Aquariums, für mich hört es sich an wie strömender Regen.